Täternarrative

Um historische Ereignisse beurteilen zu können, ist die Quellenlage entscheidend. Welche Person hat ein Schriftstück verfasst oder eine Fotografie aufgenommen und welchen Zweck hat sie damit verfolgt? Solche Fragen helfen bei der quellenkritischen Beurteilung von Dokumenten aus der Vergangenheit. Gleichzeitig eröffnen sie einen Interpretationsraum: Wie eine historische Quelle gedeutet wird, hängt letztlich auch von ihrem gegenwärtigen Betrachter ab.

Im Fall der Menschheitsverbrechen in Maly Trascjanec kann die überwiegende Mehrheit der Opfer nicht mehr sprechen. Auf etwa 60.000 ermordete Menschen in Blahaǔščyna, Šaškoǔka und einer Scheune auf dem Lagergelände kommen nur eine Handvoll Überlebende und Zeug:innen. Die Rekonstruktion der Ereignisse muss sich folglich überwiegend auf die Überlieferungen von Tätern stützen; Täter, die rassistisch und antisemitisch waren.

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Ausschnitt des Tätigkeitsberichtes des II. Zugs des Bataillons der Waffen-SS z. b. V. (Gruppe Arlt) in Minsk, 17.05.1942

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Ausschnitt aus dem Vernehmungsprotokoll von Otto Drews vom 11. April 1961

Quellen sind Positionen und Meinungen, die keinesfalls mit einer "objektiven" Wahrheit gleichzusetzen sind. Vielmehr vermitteln sie, was der Hersteller eines Dokumentes als wahr und falsch empfand. Prozesse der Nachkriegszeit (u.a. die Hamburger Prozesse) schlossen Tätigkeitsberichte und Feldpostbriefe der deutschen Besatzungskräfte in die Verfahren ein. Anders gesagt also Meinungen der Angeklagten, Unschuldsbeteuerungen und Briefe aus Straflagern, die sich teilweise wie Urlaubsgrüße an die Familie lesen. Es handelt sich überwiegend um Schilderungen scheinbar normaler Arbeiten, wie der Beschaffung von Brennholz oder von Grabungen im Wald, bei denen jedem/jeder Arbeiter:in eine Schaufel gegeben wurde. Zu harmlos wirkt das Genannte im Kontext von Massenfolterung und Mord. Eben dieser Kontext ist bei der Betrachtung von Täternarrativen entscheidend; die Täter waren nicht nur zur Geheimhaltung verpflichtet, sondern empfanden ihre Einsätze oftmals auch als „richtig“ und „notwendig“.

Es sind Menschen wie Otto Goldapp, die beteuerten, „normale“ Polizisten gewesen zu sein. Durch Zeugenaussagen konnte sein Einsatz im „Sonderkommando 1005“ in Maly Trascjanec nachgewiesen werden. Es sind Menschen wie Paul Blobel, die bis zu ihrer Verurteilung beteuerten, aus „Treue zum Vaterland“ gehandelt zu haben. Blobel konnte nachgewiesen werden, dass er für die „Aktion 1005“ – und damit die Exhumierung tausender Leichen jüdischer Menschen aus Massengräbern – verantwortlich war. Es sind ihre Aussagen, die die Rekonstruktion der Menschheitsverbrechen in Maly Trascjanec und an anderen Schauplätzen des Holocausts ermöglichen.

Inhaltlich verantwortlich: Nils Kaschubat